“Die unerwarteten Vorteile einer erzwungenen Flucht aus der Ukraine”

Mein zweiter Tag in Warschau ist gestern zu Ende gegangen, und das sehr herzlich. Als jemand, der die Ukraine bereits zuvor bereist hat, habe ich schön öfters die Bekanntschaft mit Ukrainerinnen und Ukrainern gemacht, aus der oft auch Freundschaft geworden ist. Anna aus Lemberg hat mich gestern ganz besonders beeindruckt. “ Wenn du allein und nur mit deinem Kind zur Flucht gezwungen wirst, hast du nur Eins im Sinn: Überleben, dem Kind und dir ein Dach über dem Kopf zu geben und es zu mit Essen zu versorgen”. Als ich Annas Willenskraft und Resilienz bewundere, die ich schon öfters bei Ukrainerinnen und Ukrainern bemerkt habe, erklärt sie mir, dass diese genetisch seien. Die Ukraine musste in den 30-er Jahren des 20 .Jahrhunderts eine von Stalin erzwungene Hungersnot verschmerzen und überwinden - der sogenannt Holodomor. (Übersetzt “Sterben durch Hunger”.) Seitdem gäbe es in den Häusern ukrainischer Eltern mehr als genug zu essen, Großeltern lassen es nicht zu, dass die Enkelkinder ohne “gescheites” Essen das Haus verlassen. Das sei nun auch in ihre Sinn gewesen: “Ihr Sohn braucht etwas zu essen in der neuen Heimat”. Den Job in Warschau fand sie zum Glück schnell. Sie arbeitet als Psychologin bei einer humanitären Organisation und hilft Ukrainer:innen in Polen und in der Heimat. “Wir Ukrainer:innen müssen hier wieder überleben. Die Hälfte meines Gehalts geht für die Miete drauf. Zum Glück kann ich legal arbeiten. Das ist keine Selbstverständlichkeit.” Viele Ukrainer:innen seien in die Illegalität gezwungen. Besonders schwierig wird es, wenn sie ein Kind zu versorgen haben. Erst kürzlich hätte eine Ukrainer:in ihr Kind mit auf ihren Job genommen, den sie schwarz angenommen hätte. Es sei dann in einem unvorsichtigen Moment aus dem Fenster des Büros gefallen, so Anna. Dem Kind sei nichts passiert, doch die Mutter wird nun vom polnischen Gericht angeklagt. Es mag zu traurig klingen, was ukrainische Frauen alles stemmen müssen und in welche Situationen sie geraten, doch Anna vermag der Situation auch etwas Positives abgewinnen. “Ich kann meinem Sohn die Welt zeigen. Er hat hier mehr Möglichkeiten als zuhause. Er geht mit seinen 10 Jahren allein in die Schule und von der Schule nachhause. Er besucht Freunde. Er lernt eine neue Sprache. Und ganz unerwartet habe ich entdeckt, dass ich einen Lohnsteuerausgleich in Polen machen kann. Das hatte ich In der Ukraine nicht. So habe ich für meine im letzten Jahr eingezahlten Steuern einen Ausgleich bekommen und so etwas Geld übrig gehabt. Ich konnte auf Urlaub fahren und meinem Sohn Kroatien zeigen.” Annas Sicht auf die Dinge zeigt vor allem eines: eine scheinbar unausweichliche Situation, kann auch eine Chance bedeuten. Und eine Mutter-Kind-Beziehung in der Emigration auch besonders stärken. Anna hat einen sehr herzlichen Blick, wenn sie von ihrem Sohn spricht. So wird sie mir auch nach unserem Gespräch in Erinnerung bleiben.

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