Irgendwo zwischen Holz und Papier

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Und dort, wo der Vogel im Morgenrot sein Nest baut, kann der Wurm im Inneren Schutz suchen. Was ist gesucht?

Richtig, ein Baum. Und davon gibt es in Estland reichlich viele. Circa die Hälfte der Landesfläche ist Wald; womit das Geld der estnischen Industrie wortwörtlich auf Bäumen wächst. Jeder zehnte Euro, der durch den Güterexport erwirtschaftet wird, stammt aus der Holzverarbeitung, der wichtigsten Fertigungsbranche des Landes. Vonwegen alles Startups!

Zu einer der Fertigungsstätten habe ich mich heute begeben. Im Osten des Landes, gut eineinhalb Busstunden vom estnisch-russischen Grenzübergang entfernt. “Busstunden” deshalb, weil hier sonst nichts hält. Denn Kunda ist eine Kleinstadt von gerade einmal dreitausend Einwohnern, doch seit jeher von der Industrie geprägt ist. 1870 wurde hier eine riesige Zementfabrik errichtet, die den Ort derart mit Treibhausgasen verpestete, dass das Farbspektrum höchstens als monochrom bezeichnet werden konnte.

In Grautönen präsentiert sich die Kleinstadt auch heute noch. Schuld daran ist aber vornehmlich das Wetter. Geblieben ist aber auch die Zementfabrik, wenngleich sie heute deutlich weniger schmutzig und vor allem deutlich kleiner ist. Mich aber führt die Reise noch ein Stück weiter. Nach einigen Fahrminuten auf einer ländlichen Schnellstraße und über eine Brücke des hiesigen Flusses offenbart sie sich: eine großflächige Anlage, vorne ein mehrstöckiger Klotz von Gebäude, daneben und dahinter einige teils bauchige Türme. Biogasreaktor, Holzverarbeitungsmaschine samt Speicher, Wasseraufbereitungsanlagen.

Das Espenholz stammt aus den Wäldern Estlands und den benachbarten Staaten. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine aber nicht mehr aus Russland.  

Wenn man hier nach dem Passieren des Schrankens die Autotür öffnet, bahnt sich ein Duft in die Nase, der irgendwo zwischen Papier und Holz liegt. Ziemlich genau dem, was hier passiert. Holz aus den umliegenden Wäldern, aber auch importiert aus den Nachbarstaaten im Baltikum und Skandinavien, wird hier erst zu Holzschnipseln, dann zu Zellstoff verarbeitet. Ein energieintensiver Prozess — sehr sogar. 2,5 Prozent des landesweiten (!) Strom- und Gasverbrauchs geht auf die Rechnung des Firmengeländes von Estonian Cell, auf dem jährlich knapp 190.000 Tonnen Zellstoff entstehen. Jenem wolkenfarbenen und dicht zu 300-Kilogramm-Blöcken zusammengepressten Material, aus dem in Asien und Europa Papier und Karton gemacht wird.

Aber es ist nicht einzig der Energieverbrauch, der mich hierhergeführt hat. Interessant ist nämlich auch, dass die Errichtung im Jahr 2006 eines der größten jemals getätigten ausländischen Direktinvestments in Estland mit sich gebracht hat. Noch interessanter ist, dass wesentliche Teile des Geldes aus Österreich kamen. Gemeinsam mit zwei Partnern investierte die österreichische Heinzel-Gruppe 153 Millionen Euro. Nach dem Absprung der anderen Investoren sicherte sich der Papierkonzern die alleinige Eigentümerschaft. Und hat sie bis heute inne.

Im Hauptgebäude werden die Holzschnipsel zu Zellstoff verarbeitet. Ein reichlich energieintensiver Prozess. Das führt zu so manchem Problem.  

Doch in der Papierindustrie mit ihrem riesigen ökologischen Fußabdruck drückt der Schuh — und zwar gewaltig. Eigentlich überall in Europa, besonders aber in Estland, wo die Energiepreise zeitweise derart hoch stiegen, dass es billiger war, die Produktion tageweise komplett herunterzufahren. Wie kam es dazu? Und wie will man wieder raus aus der Krise? Fragen, auf die es bald Antworten gibt. Spoiler: die Zukunft hängt auch an einer Unterschrift aus Wien.

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„Wir fühlen uns, als würden wir feststecken“