Pragmatismus als Erfolgsmodell in einer digitalisierten Welt
Wie viele “Einhörner” es in Estland gibt, dazu schwirren zwei Zahlen umher. Die eine lautet zehn, die andere zwölf. Freilich sind damit nicht die Fabelwesen gemeint, sondern jene Start-Ups des Landes, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet sind. Es sind die Flaggschiffe á la Skype, Bolt, Playtech. Zwölf, das kommt heraus, wenn man alle Start-Ups zählt, die in Estland oder von Esten anderswo gegründet worden sind. Diejenigen, die von zehn Einhörnern sprechen, sind etwas strenger. Für sie gelten nur jene innovativen Unternehmen, die auf estnischem Boden ins Leben gerufen wurden.
Jedenfalls mit auf der Liste ist Pipedrive. Die fünf Gründer, deren Namen heute in einer Hollywood-Walk-of-Fame-Nachahmung auf einer Wand in den Büroräumlichkeiten des Software-Entwicklers prangen, haben es binnen eines Jahrzehnts zum Einhornstatus geschafft. Vertrieben wird ein CRM-Service, Kurzform für Customer Relationship Management. Weil die fünf Verkaufsmitarbeiter im Jahr 2010 kein passendes, einfach zu überblickendes Tool für die Organisation ihrer vielfältigen Salestätigkeiten gefunden haben, riefen sie schlicht ihr eigenes CRM-Tool ins Leben.
14 Jahre später zählt Pipedrive mehr als 1.000 Kunden unterschiedlichster Branchen in aller Welt, die bei ihren Verkäufen auf die KI-gestützte Software setzen. Besonders vielversprechende Kunden werden zahlenbasiert herauskristallisiert, passende Maßnahmen für jeden Einzelnen der potentiellen Käufer vorgeschlagen. Hinzu kommen aktuelle Berichte und Erinnerungen, um die Ressourcen in die richtigen — heißt profitabelsten — Bahnen zu lenken. Dass all das auch reibungslos funktioniert, dafür sorgen rund 800 Mitarbeiter an zehn Standorten.
Der wichtigste davon ist nach wie vor in Tallinn, wo mehr als 300 Menschen die Verkaufssoftware designen, entwickeln und vemarkten. Die einzelnen Abteilungen werden “Tribes” genannt, meist umfasst ein solcher acht bis achtzehn Mitarbeiter. Die Arbeit ist fordernd, nur die Besten schaffen es überhaupt erst durch das fünfstufige Bewerbungsverfahren. “Erst in den letzten ein oder zwei Runden geht es um die fachlichen Kompetenzen”, erzählt Agur Jõgi, Chief Technology Officer (CTO) bei Pipedrive. Im Vordergrund stehe vor allem, ob die (meist jungen) Mitarbeiter in die Firmenkultur passen. “Die Bewerber können noch so talentiert sein; wenn sie nicht mit unseren Werten und der Kultur zusammenpassen, kommen sie erst gar nicht in die enge Auswahl.”
Die Kultur ist Start-Up pur. Fast schon klischeehaft steht ein Tischtennistisch in der Lobby, ein Foodtruck im Essensbereich und jede Menge Sitzsäcke mit Pipedrive-Logo in den Gängen. An den Türen zu den verglasten und mit riesigen Bildschirmen ausgestatteten Büros hängen Motivationssprüche. Die Räume selbst sind nach Musikinstrumenten, Kinoklassikern und Sportarten benannt. Selbst Sauna und Fitnessraum sind im neunstöckigen Gebäude zu finden. All das soll ein Lebensgefühl vermitteln; dass man Teil eines größeren Ganzen ist. Es soll aber auch beim Verschnaufen helfen, denn die Arbeit ist intensiv. Auch das schwingt beim Lokalaugenschein mit.
Sinnbildlich dafür steht etwa die hausinterne Ausbildung, die “School of Code”. Zweimal jährlich werden hier junge Menschen ausgebildet, ein elitärer Kreis. Auf einen der zehn Plätze kommen rund 25 Bewerber, erzählt Jõgi nicht ohne Stolz. Im Vordergrund stehen Talent und Fleiß. “Ob jemand einen Titel hat oder direkt von der Schule kommt, macht keinen Unterschied.” Wer sich beweisen kann, hat nach dem dreimonatigen Programm die Chance, übernommen zu werden. In der ersten Ausbildungswelle war es drei von zehn, bei der zweiten alle. “Wir denken, dass 70 Prozent ein gutes Niveau wären”, sagt Jõgi.
Woher der Erfolg von Pipedrive kommt? “Was uns von der Konkurrenz abhebt, ist, dass wir es übersichtlich und einfach halten.” Damit ist Pipedrive gewissermaßen ein Spiegelbild der estnischen Verwaltung. Auch dort, wo 99 Prozent der Services digitalisiert sind — einzig für Scheidungen muss man physisch in einem Raum anwesend sein —, steht die Einfachheit im Fokus. Die Services sollen für jeden verständlich sein, jeder soll sie bedienen können. Pragmatismus als Erfolgsmodell.