Festland-Franzosen und Korsen an einem Tisch
Mit Straßenumfragen ist es überall dasselbe: Die wenigsten wollen mit einer Journalistin reden, und noch weniger ein Foto oder gar ein Video von sich machen lassen. Das ist bei den Korsen nicht anders.
Corte, die einzige Stadt im Inselinneren, war unter dem Freiheitskämpfer Pascal Paoli kurzzeitig die Hauptstadt Korsikas und gilt nach wie vor als Ort des Widerstands – fast symbolisch dafür ragt die Zitadelle hoch über der Stadt. Gerade mal 7.400 Einwohner leben hier – die Hälfte davon sind Studierende. In Corte gibt es die einzige Universität der Insel, die Université Pasquale Paoli, von diesem 1765 gegründet. Nach dem Sieg der Franzosen 1769 wurde sie geschlossen, und erst 1981 wiedereröffnet.
In der Mittagspause tummeln sich die Studenten in den lokalen Bars. Darunter eine Gruppe Jus-Studierender, sie trinken Cola und Schweppes, einer zündet sich eine Zigarette an. Lukas ist der einzige gebürtige Korse am Tisch, alle anderen kommen vom Festland, aus Marseille, Lyon, Aix-en-Provence. Verstehen tun sie sich trotzdem.
Immer diese Vorurteile
“Klar gab es Vorurteile gegenüber den Anderen. So wie es sie gegenüber jeder Region gibt. Aber die legen sich, wenn man mal miteinander redet.”
Lukas, 21 Jahre alt, schwarzer Pulli, aus einem Dorf in der Nähe von Bastia im Norden Korsikas. Was hält er von den Autonomie-Plänen für seine Heimat? “Ich bin kein Autonomist, nicht für eine Unabhängigkeit, ich finde es wichtig, dass Korsika französisches Territorium bleibt, allein aus wirtschaftlichen Gründen. Aber ich glaube, dass sich Korsika besser entwickeln könnte, wenn es etwas mehr Entscheidungsfreiheit gäbe.”
Was sagt die Gruppe zur EU? Lukas erzählt, wie er im Urlaub von Korsika aus über Italien bis nach Tschechien getrampt ist, “ohne Kontrollen, ohne Grenzen. Die EU ist allein schon deswegen wichtig, für den Wirtschaftsraum, für die Menschen, zum Arbeiten. Und für Frieden.”
Die EU sei eine wichtige Sache, vor allem aus geopolitischer Sicht, sagt die 26-jährige “Festland”-Französin Louise, “aber die Umsetzung ist schwierig. Die Entscheidungsfindung unter so vielen Ländern ist kompliziert, man hat das Gefühl, dass immer dieselben die Entscheidungen fällen. Das wird, je größer die EU wird, nicht einfacher.”
Francesca, 23, kommt aus dem Dorf Cervione, hat in Lyon Psychologie studiert, wollte aber immer zurück nach Korsika. Heute arbeitet die junge Korsin mit den langen dunklen Haaren im Musée de la Corse. “Vielen hier erscheint die EU zu weit weg. Vielleicht auch weil wir zu viel mit uns selbst zu tun haben, mit der Autonomie. Wir haben das Gefühl, nur die Autonomie kann unsere Kultur erhalten.“ Francesca selbst spricht auch Korsisch (die Sprache hat Ähnlichkeit mit dem Italienischen), vor allem mit ihrer Familie daheim.
Vermessung der jungen Korsen
Auf der Uni treffe ich jemanden, der mir die Jungen auf Korsika aus wissenschaftlicher Sicht erklären kann: Didier Rey, ein schmaler Franzose, geboren am Festland, aufgewachsen auf Korsika, hier ein bekannter Historiker. Im Vorjahr hat er im “Atlas de la Corse contemporaine” die aktuelle, sozio-ökonomische Lage der Insel vermessen. Wir bestellen einen Kaffee in einem Lokal nahe der Universität.
Also, wie nationalistisch sind die jungen Korsen? “Der heutige Nationalismus ist einer der extremen Rechten, der auch rassistisch, anti-muslimisch und anti-arabisch ist. Das war nicht immer so”, sagt Rey. “Und ja, dieser Nationalismus ist auch unter den Jungen verbreitet, nicht unter allen, aber er ist da. Und zwar sowohl unter ärmeren als auch reicheren.”
Zudem sympathisiere ein großer Teil der Jungen mit Autonomiebewegungen, auch mit der Geschichte des terroristischen FLNC – “mehr sogar als zu meiner Zeit”, sagt der 63-jährige Franzose. In Corte findet man Graffitis, die den Nationalisten Yvan Colonna verherrlichen oder Sympathie mit dem FLNC ausdrücken.
Was hält der Historiker von den Plänen zur Autonomie? Rey stört vor allem der Zeitpunkt: “Dass die Verhandlungen nach der Ermordung Colonnas und den gewaltsamen Ausschreitungen aufgenommen wurden, und nicht viel früher. Das erweckt den Eindruck, dass die Eskalation die Verhandlungen erst ermöglicht habe. Das ist gefährlich.” Rey hält es nicht für unwahrscheinlich, dass die Verhandlungen herausgezögert würden, dass die französische Regierung diese nicht ernst nehme. Der neue Premierminister kommt aus einer Partei, die mehr Autonomie für die Insel ablehnt. “Wenn die Verhandlungen scheitern, dann wird die Antwort hier Gewalt sein. Ich habe Freunde an diese Gewalt verloren. Und ich halte es für wahrscheinlich, dass sie wieder aufflammen könnte.”
Dass die EU großteils als “zu weit weg” wahrgenommen werde, bestätigt Rey. Gleichzeitig finden sich in korsischen nationalistischen Bewegungen zahlreiche Vertreter, die die EU befürworten, “weil sie das Gefühl haben, dort gehört zu werden”, und sich mit europäischen Regionen mit ähnlichen Autonomieplänen austauschen können. Auch aus der Perspektive der Subsidiarität, der sich die EU verpflichtet hat, könne eine Autonomie für bestimmte Regionen argumentiert werden, so Rey.
Natürlich, sagt der Historiker am Ende unseres Gesprächs, würde die Autonomie die Probleme Korsikas von einen Tag auf den anderen nicht lösen – die Armut, die extreme Ungleichheit, die überteuerten Wohnpreise. “Aber sie würde helfen, Spannungen abzubauen. Franzosen gegen Korsen, Korsen gegen Franzosen. Das müssen wir endlich hinter uns lassen.”