“Als Franzosen leben und sterben”

Die Gardisten tragen weiße Handschuhe und ein Barett am Kopf; mit beiden Händen halten sie die schweren Fahnenstangen der französischen Nationalflaggen in die Höhe. In der Mitte des weißen Streifens: ein schwarzer Kopf mit einer weißen Stirnbinde – das Wappen Korsikas. Vor dem Denkmal stehen augenscheinlich lokale Amtsträger, in Anzug und mit Schärpe um den Oberkörper, und Marineoffiziers, rundherum Schaulustige. Kinder lesen Erinnerungen vor, darunter die Antwort der Korsen auf Mussolinis Forderung, Korsika solle ein Teil Italiens werden. Es ist ein Zitat, das die Versammelten hier alle kennen: “Vor der Welt schwören wir, dass wir als Franzosen leben und sterben.” Im Hintergrund Möwengeschrei, der Himmel färbt sich langsam rosa. Die Blaskapelle ertönt, und spielt die französische Nationalhymne.

Und das sollen die aufmüpfigen Korsen sein?

Keine Stunde auf Korsika gelandet, und schon finde ich mich mitten in meinem Recherchethema wieder.

Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestags des Widerstands und der Befreiung Korsikas von italienischen und deutschen Truppen am 9. September 1943.

Für die meisten ist Korsika sofort mit Urlaub verbunden: weite Sandstrände und raue Klippen, hohe Berge und eine mediterrane Natur, die nach Kiefern und Myrte riecht. Auf der viertgrößten Insel im Mittelmeer leben rund 355.000 Menschen – weniger als in Wiens größten Bezirken Favoriten und Donaustadt.

Am gestrigen 9. September gedachte Ajaccio, die größte Stadt auf Korsika, dem Aufstand der Korsen und der Befreiung von Mussolinis und Hitlers Truppen durch die Alliierten 1943. Wirklich zusammengeschweißt hat das die Insel und das Mutterland Frankreich aber nicht.

Willkommen auf Korsika!

Am korsischen Widerstandskämpfer Pascal Paoli kommt man auf der französischen Insel nicht vorbei. 1755 entwarf er die erste demokratische Verfassung weltweit, die sogar Frauen das Wahlrecht schenkte (sofern sie verwitwet oder alleinstehend waren). Unabhängig wurde Korsika trotzdem nicht.

Korsikas Geschichte ist eine von Besetzung und Widerstand – zuerst gegen die Franken, dann gegen die Mauren, die Genuesen und schlussendlich gegen die Franzosen. Die Auflehnung ist nach wie vor nicht gebrochen, das korsische Identitätsgefühl und die Verteidigung der Kultur sind ein wesentliches Thema. Bis in die 2010er Jahre gab es gewalttätige Anschläge, die sich gegen Paris richteten. Im März dieses Jahres einigten sich Paris und Ajaccio auf Pläne für einen Autonomie-Status, doch diese kamen wegen der Regierungskrise in Paris zuletzt ins Stocken.

Auf Paris sind die Korsen also nicht gut zu sprechen. Doch wie ist das Verhältnis zu Brüssel? Wie und wo wird die Europäische Union wahrgenommen? Gibt es hier so etwas wie “eine europäische Identität” überhaupt? Und wie wird sich der neue Autonomie-Status auf die Beziehung zur EU auswirken? Diese Fragen möchte ich in den kommenden Tagen versuchen zu beantworten.

Im Hafen von Ajaccio wird die "Revolution" ausgerufen.

Zurück
Zurück

An der Grenze zwischen Demokratie und Autokratie

Weiter
Weiter

“Nie wieder” - Über Geschichtsaufarbeitung und kollektive Verantwortung