Zwischen Napoleon-Erbe und nationalistischem Terror ODER: Wie wird man ein korsischer Terrorist?

Ab den 70ern und bis in die 2010er-Jahre tobte eine gewalttätige, nationalistische Gruppierung auf Korsika. Bombenanschläge auf Ferienhäuser und Villen von Festland-Franzosen, Geiselnahmen, die Tötung von Polizisten oder “moderaten” korsischen Autonomisten gingen auf ihr Konto. Fronte di Liberazione Naziunale Corsu, kurz FLNC, hieß die Terrorgruppierung; heute gilt sie als inaktiv, auch wenn sie einzelne Anschläge auf Ferienhäuser nach wie vor für sich reklamiert. Ihre einstigen Mitglieder, die sich auf alten Fotos mit Sturmhaube und schwer bewaffnet zeigten, sind heute Fischer, Koch in einem Restaurant – oder betreiben einen Souvenirladen nicht weit entfernt von Napoleon Bonapartes Geburtshaus, mitten in Ajaccio.

Ja, er hat Leute gekannt, die beim FLNC waren und Anschlägen verübt haben, und ja, auch er sei beteiligt gewesen, “un peu”, ein bisschen, sagt Guy.

Wer das heutige Korsika verstehen will, muss sich mit seiner jüngeren und älteren Geschichte auseinandersetzen. Und Gespräche mit den Generationen führen. Guy, seinen Nachnamen lassen wir weg, er ähnelt dem französischen Wort für “Grille”, so nennen ihn auch seine Freunde. 65 Jahre alt, weißer Stoppelbart, kräftig, gesellig. Dem gesprächigen Kerl ist im Leben zweifellos nie langweilig geworden. Seine Geschichte und seine Gefühle sollen hier beispielhaft für jene eines Korsen seiner Generation stehen. Geboren in Ajaccio, “wie Napoleon”, sagt er und grinst. Das wäre dann aber wohl auch die einzige Gemeinsamkeit.

Auslage in Ajaccio.

Napoleon verkauft sich gut.

Denn während Napoleon an der Seite der Franzosen gegen die Korsen kämpfte, und deswegen auf der Insel weniger beliebt ist, als man angesichts seiner Vermarktung hier denken mag, kämpfte Guy teils gewalttätig für eine freies Korsika. Also nichts mit “als Franzose leben und sterben”, mit dem sich die Korsen im Zweiten Weltkrieg gegen Mussolini gestellt haben? “Das war die Generation meiner Eltern. Der große Feind war damals der Faschismus. Unser Feind ist der französische Zentralismus.”

Am Nebentisch sitzen urlaubende Festland-Franzosen, mit denen Guy eben noch gescherzt hat.

Die Liebe zu Napoleon hält sich in Grenzen

Guy stellt klar: “Wir brauchen sie, und sie sind hier willkommen. Solange sie nicht hochnäsig auf uns herabblicken”, auf eine Art “parisien”, also die Parisische Art. Es geht ihm um die allmächtige Entscheidungshoheit Paris‘, in noch so nichtigen Fragen. Zum Beispiel, was die Öffnungszeiten des Geburtshauses von Napoleon angeht. Die Korsen hätten gerne über Mittag geschlossen, dafür am Abend länger geöffnet. “Aber dann heißt es, wir seien faul. Alles was gut läuft, wird Frankreich zugeschrieben. Was schlecht läuft, daran sind die Korsen schuld.”

Guy holt einen Magneten von einem Verkaufsständer: Er hat die Form der Insel, ihn zieren das Konterfei Napoleon Bonapartes und jenes von Paoli, dem korsischen Freiheitskämpfer. Die beiden kannten sich, Napoleons Vater kämpfte an Paolis Seite gegen die Franzosen, nachdem Genua die Insel an Frankreich verkauft hatte. Napoleon krönte sich später zum Kaiser und stellte sich gegen eine Unabhängigkeit Korsikas – ein Verrat für seine korsischen Landsleute.

“Hier in Ajaccio respektieren wir Napoleon, er hat Ajaccio Bekanntheit verschafft. Aber lieben tun wir ihn nicht”, sagt Guy. “Aber die Welt kennt ihn sowieso mehr als Franzosen als als Korsen.”

Für die Korsen ist Paoli der eigentliche Held, für die Franzosen Napoleon.

Im Schnelldurchlauf führt Guy durch die Geschichte Korsikas. Er erzählt aber auch von Ungleichbehandlung und dem Gefühl, schlechter gestellt und weniger wert zu sein, das viele dieser Generation erlebten. Etwa wenn in der Schule die korsische Sprache verboten wurde. Oder die Franzosen zu billigen Konditionen hier Land erwerben konnten. Oder die “Pieds-noirs”, die Franzosen, die nach dem Algerien-Krieg aus Nordafrika evakuiert werden mussten, am Festland nicht willkommen geheißen, stattdessen auf Korsika angesiedelt wurden und Landwirtschaft erhielten, “während wir nichts hatten”, sagt Guy. Auch gegen sie richtete sich die Gewalt des FNLC.

Fest in der Hand der Nationalisten

Während er erzählt, wirkt Guy weder wütend noch emotional, erwartet keine Bewertung; er wirkt vielmehr bemüht, Einblick in “seine” Gefühle und Geschichte zu geben. Er wird erst lauter, als über den Nationalisten Vyan Colonna spricht, ein Märtyrer für viele nationalistische Korsen. Die letzten gewaltsamen Ausschreitungen auf Korsika fanden 2022 statt, als Colonna, der wegen der Ermordung des französischen Repräsentanten auf Korsika in lebenslanger Haft landete, dort getötet wurde. Guy ist mit Colonna zur Schule gegangen. Die Ungewissheiten und Gerüchte, die sich um Colonnas Ermordung im Gefängnis durch einen Mithäftling ranken, erzürnen Guy.

Treueschwüre auf den Nationalisten Colonna findet man überall auf Korsika.

Heute haben nationalistische Parteien im Regionalparlament die Mehrheit. Colonnas ehemaliger Anwalt ist der Präsident des Inselparlaments. Doch untereinander sind die Nationalisten zerstritten, Extremisten gegen “Moderate” und umgekehrt.

Die Extremisten sind es auch, die die mit Paris ausgehandelten Pläne zum Autonomie-Status ablehnen – weil sie ihnen nicht weit genug gehen.

“Eine völlige Unabhängigkeit Korsikas ist illusorisch. Das wissen alle.” Guy wirkt heute gemäßigter als in seinen Erzählungen. Vielleicht ist es Altersmilde, vielleicht Realismus.

Die aktuellen Pläne zur Autonomie sehen Freiheiten in der Gesetzgebung und im Bildungssystem vor. “Paoli wäre zufrieden damit”, er selbst ist es auch, sagt Guy. Was ihm Sorgen bereite, ist die neue Regierung. Die Pläne wurden mit der alten geschmiedet. “Barnier [der neue Premierminister Frankreichs] hat Profil, er ist ein Mann des Dialogs, kein Technokrat. Auch wenn er nicht ideal ist, ist er die einzige Option, die wir derzeit haben.” Doch ob die neue Regierung die Autonomie-Pläne übernimmt, sei unklar.

Ausverkauf Napoleons.

Manchmal findet man den Kaiser der Franzosen auch als Schnäppchen am Flohmarkt.

Er sei zuallererst Korse, stellt Guy am Ende des Gesprächs einmal mehr klar. “Auch, weil uns die Franzosen nicht als Franzosen sehen, sondern als Korsen.”

Und Europäer?

Guy überlegt. Ja, da gibt es etwas, sagt er, eine engere Verbindung zu den Sarden, den Einwohnern Sardiniens, und den Romands aus der Romandie, der frankophonen Schweiz, als zu den Franzosen am Festland. “Auch hier im Herzen”, er deutet auf seine Brust.

Guy schenkt mir den Magneten mit Napoleon und Paoli darauf. “Weil wir uns verstanden haben.” Auch wenn ich nicht von hier bin.

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EU-kritische Griechen: Migration, Finanzkrise, ungleiche Machtverteilung

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An der Grenze zwischen Demokratie und Autokratie