“Eigentlich mag Brüssel keiner”
Schon im Nachtzug ein erster Vorgeschmack auf mein Reiseziel: Ich frage die junge Belgierin in meinem Liegeabteil, was sie von der Hauptstadt ihrer Heimat hält, sie antwortet prompt: „Eigentlich mag Brüssel keiner.“ Die meisten Belgier:innen würden die Stadt zu dreckig finden, zu heruntergekommen, zu unpersönlich, zu groß, zu unfreundlich, zu teuer. Nur die, die in Brüssel wohnen, verteidigen ihre Stadt manchmal, fügt die Belgierin hinzu. Sie selbst ist aus Antwerpen. Brüssel habe schon schöne Ecken, aber man müsse genau wissen, wo die sind, findet sie.
Für mich ist Brüssel schwer zu fassen, da sind die bedeutungsschwangeren EU-Institutionen, die schöne Altstadt mit dem Mont des Arts, dem „Museumshügel“, die meisten Menschen sprechen Französisch, aber viele dann doch wieder Flämisch oder Deutsch oder Englisch. Verschiedene Kulturen treffen in ganz Belgien aufeinander, drei „Regionen“ gibt es: Flandern, Wallonien, Brüssel-Hauptstadt.
Beim ersten Versuch, Brüssel ein bisschen zu begreifen, sprechen mich am Grand Place die drei Schülerinnen Larissa, Felicie und Louise (alle 15 Jahre alt) an. Sie wollen mich „interviewen“, auf Englisch, für eine Schulaufgabe. Ich soll mich selbst beschreiben, sagen, was ich arbeite, wann ich aufstehe, was ich gerne esse. Als sie hören, dass ich hier in Belgien zum Bildungssystem recherchieren will, stellen sie sich sofort auch für meine Fragen zur Verfügung. Sie erklären, was sie in der „creche“ der Krippe, in der „ecole maternelle“, dem Kindergarten, der Volksschule und der sekundären Schule lernen. Schlecht finden sie ihr Bildungssystem nicht, sie finden gut, dass hier alle relativ jung ins Bildungssystem starten, die gleichen Voraussetzungen haben. „We all start at zero“, sagt Louise (15). Genau darüber will ich in den nächsten Tagen mehr herausfinden: Sorgt frühe Bildung wirklich für dieselben Chancen für alle und für weniger Ungleichheit im System?