Von Stiefkindern und Rabenmüttern

Rabenmutter. In Österreich ist das Unwort wohl allen ein Begriff, in Belgien fehlt es im Sprachgebrauch komplett. Keine Frau wird verurteilt, wenn sie ihr Kind ein paar Wochen nach der Geburt in die “creche” gibt. Hier ist das einfach üblich. Die Belgier:innen denken da ganz anders, erzählt mir Roswitha Preininger im Steiermark-Haus in Etterbeek im Osten von Brüssel zwischen dem denkmalgeschützten Kamin und dem prächtigen Luster, gleich in der Nähe haben die Europäische Kommission und das EU-Parlament ihren Standort. Preininger ist die Referentin für Bildung und Jugend im Steiermark-Haus in Brüssel und kann aus ihrer Erfahrung das belgische Bildungssystem mit dem österreichischen vergleichen - und alles in Verbindung mit der EU bringen.

Roswitha Preininger steht vor einem Kami, neben ihr hängen die steirische und die europäische Flagge

Roswitha Preininger beschäftigt sich seit Jahren mit Bildung, seit neun Jahren im Auftrag der steirischen Regierung in Brüssel

Was wir uns noch abschauen könnten? Nicht nur, dass Kinder im frühen Alter in eine Bildungsinstitution kommen, sondern auch, dass die einzelnen Institutionen in der Regel gut zusammenarbeiten, meint Preininger. In Belgien ist eine “ecole maternelle” ist sehr oft an eine “primaire”, eine Volksschule angeschlossen, die Pädagog:innen kommunizieren miteinander, Kinder können besser gefördert werden.

Dieser ganzheitliche Ansatz für das Bildungssystem wird auch von der EU empfohlen. Lange war Bildung für die Europäische Union eine Art “Stiefkind”, ist von mehreren Seiten in Belgien zu hören. Oft wurde hier gespart, die Gelder woanders hin verteilt. Erst 2018, also erst vor fünf Jahren, kommt man darauf, dass es vielleicht nicht so schlecht wäre, gemeinsame Bildungsstandards und -ziele festzulegen und zu verfolgen. Die Idee vom Europäischen Bildungsraum kommt auf, er soll bis 2025 umgesetzt werden und damit den Zugang zu guter Bildung für alle verbessern. Die Länder sollen voneinander lernen. Für den Bereich frühe Bildung ist eine Arbeitsgruppe am Werk, erzählt man mir bei meinem Besuch in der Europäischen Kommission.

Besuch in der Europäischen Kommission

Doch lässt sich das System von einem Land nicht eins zu eins über ein anderes stülpen. Bis sich Denkweisen ändern und Bewusstsein kommt, kann viel Zeit vergehen, gibt Roswitha Preininger zu bedenken. Es könnte aber helfen, sagt sie, wenn die EU mehr Budget und Mittel für Bildung in die Hand nimmt und den Mitgliedsstaaten zur Verfügung stellt. Damit von “Stiefkind” und “Rabenmutter” bald endgültig und überall keine Rede mehr sein kann.

Morgen drücke ich übrigens wieder die Schulbank hier in Brüssel. Vielleicht finde ich noch den ein oder anderen Punkt, den wir uns von Belgien abschauen können. Am Nachmittag spreche ich dann mit einer Mutter, die ihre Kinder zu Hause unterrichtet. Vorsichtige Vermutung: Sie wird wohl dagegen sein, dass frühkindliche Bildung verpflichtend wird. Ich möchte wissen, was ihre Beweggründe sind und was sie zum belgischen Bildungssystem sagt.

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“Finanzbildung hilft der Gesellschaft, bessere politische Entscheidungen zu treffen”