Lettland: Das Gestern kennen, um das Heute zu verstehen
Schnelles Internet, eine hervorragende logistische Lage aber auch Abwanderung und der Fachkräftemangel beschäftigen derzeit Lettlands Bevölkerung. Die Geschichte des baltischen Staates spiegelt sich in den Herausforderungen der Gegenwart. Meine ersten Eindrücke aus der ehemaligen Hansestadt Riga.
Die Saeima - so der Name des lettischen Parlaments - hat ihren Sitz im Haus der Livländischen Ritterschaft, das auch Neues Ritterhaus genannt wird. Auch das ist ein Verweis auf die bewegte Geschichte des Landes.
Seit wenigen Tagen hat Lettland eine neue Ministerpräsidentin. Die bisherige Sozialministerin Evika Silina von der liberalkonservativen Regierungspartei wurde am Freitag in ihrer neuen Funktion bestätigt. Als erste Amtshandlung bekräftigte sie in einer Rede den euro-atlantischen Kurs Lettlands und eine Abkehr von Russland.
So weit, so europäisch - und für Lettland nicht zuletzt historisch bedeutend. “Seit Livland 1530 Teil des Heiligen Römisches Reiches wurde, sind wir Teil des Westens”, erklärt mir Historikerin und Fremdenführerin Līga Irbe bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt Rigas.
Die Einflüsse, die Deutsche, Schweden, Polen und Russen seit dem Mittelalter im Land hinterlassen haben, sind intrinsischer Bestandteil der lettischen Identität. Das wird in der Altstadt deutlich - aber auch im Gespräch mit weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern aus Riga.
Erste Fremdsprache in den Schulen ist mittlerweile zwar Englisch - allerdings gefolgt von Deutsch. Mit vielen kann ich mich daher auch auf Deutsch darüber unterhalten, welche Kompetenzen Lettlands Gesellschaft auszeichnen. (Die teilweise auch überraschenden Ergebnisse behalte ich vorerst noch für mich - stay tuned.)
Aber nochmals zurück zur Geschichte: Auf der einen Seite identitätsstiftend, ist sie auf der anderen Seite ein wunder Punkt, den zuletzt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wieder verstärkt zum Vorschein gebracht hat. Von 1950 bis 1991 war Lettland von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz UdSSR, besetzt. Von allen drei baltischen Staaten war das Land am stärksten von der sowjetischen Umsiedlungspolitik betroffen. Heute gehören daher knapp 38 Prozent der lettischen Bevölkerung Minderheiten an, wobei ethnische Russinnen und Russen mit etwa 27 Prozent der Gesamtbevölkerung die bedeutendste Gruppe darstellen.
In unserem Stadtspaziergang verweist Līga immer wieder auf die historische Bedeutung des Handels für die ehemalige Hansestadt Riga. Seine geografische Lage ist Lettlands logistischer Vorteil und hat dem Land nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht. Heute gehören Maschinenbau und Metallverarbeitung, Holz- und Möbel-, Nahrungsmittel, Textil- sowie Chemische Industrie zu den wichtigsten Branchen Lettlands - doch auch der Fachkräftemangel ist hier besonders stark zu spüren.
Heute der Sitz des lettischen Denkmalamtes, ist dieses Haus das älteste Wohnhaus der Stadt Riga. Spannend: Einst war es Stätte eines handwerklichen Berufes, denn über Generationen hinweg war hier eine Bäckerei ansässig.
Zurückzuführen ist das unter anderem auf den demografischen Wandel in dem 1,8-Millionen Einwohner-Land und auch auf Abwanderung, wie mir Līga erzählt. “Viele junge Menschen gehen zum Arbeiten ins europäische Ausland”, sagt sie.
Damit lässt sich auch ein anderer Umstand erklären: Lettland setzt wie seine baltischen Nachbarn Estland und Litauen zwar schon früh im Bildungssystem auf Digitalisierung, in der breiten Bevölkerung ist der digitale Wandel aber bisher nur in gewissen Bereichen angekommen. Einer davon ist mir aber sofort aufgefallen: Schnelles Internet und WIFI-Zugang, wo auch immer man sich gerade befindet. Der Frage, was das für die Zukunft des Arbeitsmarktes bedeutet, versuche ich morgen auf die Spur zu kommen.
Der erste Tag in Riga war auch von vielen überwältigenden Eindrücken geprägt. In etlichen Gesprächen wurde für mich deutlich: Die Menschen hier sind aufgeschlossen, kommunizieren gerne. Einfach auf der Straße angesprochen zu werden, hat hier eigentlich niemanden gestört - man ist schnell ins Gespräch und auch inhaltlich in die Tiefe gekommen. Eine gute Vorlage für drei weitere spannende Recherche-Tage.