Wenn die Perspektiven ausgehen
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch das schulische Leben in Lettlands Schulen auf den Kopf gestellt. Zuvor wurde an vielen Schulen bilingual in lettischer und russischer Sprache unterrichtet. Die Regierung hat das nun verboten. Ein Umstand, der Eltern aus ungewöhnlichen Gründen besorgt. Nachtrag zu meinem letzten Tag in Riga.
Tag vier ist anders verlaufen, als das ursprünglich geplant war. Eine Interviewpartnerin ist erkrankt und musste kurzfristig absagen. Wir werden nun eine andere Möglichkeit suchen, um trotzdem noch ins Gespräch zu kommen. Journalismus heißt eben auch: flexibel umdisponieren. Die Interview-Absage hat allerdings die Möglichkeit für ein anderes spannendes Gespräch eröffnet - jenes mit der zweifachen Mutter Mila.
Kennengelernt habe ich sie, weil sie in meinem Hotel an der Rezeption ausgeholfen hat. Eigentlich ist sie gerade in Mutterschutz, ihr kleiner Sohn ist neun Monate alt. Der Ältere ist elf Jahre alt und in der fünften Schulstufe. Das Hotel gehört ihrer Familie. Im Winter ist sie im schweizerischen St. Moritz als Skilehrerin tätig.
Und damit sind wir auch schon mitten in ihrer Geschichte.
Als Kind einer Russin und eines Belarussen ist Mila mit Russisch als Familiensprache aufgewachsen. Damit sei sie bei weitem nicht alleine. Viele Familien - insbesondere in und um Riga - seien so zusammengesetzt. Was sie erzählt, knüpft an meine Recherchen der letzten Tage an. Lettland war im Kommunismus stark von der Umsiedelungspolitik der UdSSR betroffen. Russisch prägt daher bis heute den Alltag vieler Menschen. Das wurde mir unter anderem auch am Mittwoch in den Gesprächen an der Schule in Ogre bestätigt.
Dieser Umstand führte unter anderem dazu, dass an 140 allgemeinbilden Schulen des Landes bisher ein bilingualer Unterricht in lettischer und russischer Sprache geführt wurde. Seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine will die lettische Regierung das aber beenden. Nach einer zweijährigen Übergansphase soll jeglicher russischer Unterricht aus Lettlands Schulen verbannt sein.
Mila gibt das Grund zur Sorge. “Ich weiß nicht , ob die Schulen in Zukunft ihre Qualität halten können”, sagt sie. Als Beispiel nennt sie die Schule ihres Sohnes, die zu einer der Topschulen Lettlands gehöre. “Die Lehrerinnen sind alle sehr bemüht, aber lettisch haben die meisten von ihnen selbst erst in der Schule richtig gelernt”, meint sie und schildert außerdem: “Oft fällt bereits den Schülern auf, dass die Lehrkräfte Fehler in der lettischen Sprache machen.”
Grund dafür sei unter anderem, dass die Lehrkräfte ein eher hohes Durchschnittsalter hätten. Junge Lehrkräfte zu finden, sei wegen der geringen Entlohnung von durchschnittlich etwas mehr als 1000 Euro pro Monat schwierig. Bei gleichzeitig sehr hohen Lebenserhaltungskosten sei es klar, dass man sich so das Leben nicht mehr leisten könnte.
Für Mila ist all das eine Mischung, die zu Lasten der Unterrichtsqualität gehen könnte. Ihr Sohn möchte nach der Schule Ingenieur werden. Ob seine Bildungszukunft in Lettland liegt, weiß Mila derzeit nicht. Durch die Beziehungen in der Schweiz liebäugelt sie damit, dauerhaft dorthin auszuwandern. In Lettland gehen ihr die Perspektiven aus.
Als Mila begann, mir ihre Geschichte zu erzählen, war ich natürlich auch skeptisch. Eine Familie, die ein Hotel besitzt und ein zweites Standbein in der Schweiz hat, hat vermutlich eher “Luxus-Sorgen”. Sieht man sich allerdings die Zahlen an, dann betrifft das Ende des bilingualen Unterrichts trotzdem 23 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an lettischen allgemeinbildenden Schulen. Wie sich diese Veränderung auf lange Sicht auswirkt, kann natürlich nicht vorhergesagt werden. Allerdings könnte die Zahl derjenigen, die nach einer Schulausbildung in Lettland ein Studium im Ausland beginnen weiter ansteigen. Derzeit liegt sie bei über 6 Prozent. Und auch eine weitere Zahl könnte das negativ beeinflussen: Mehr als drei Prozent aller offenen Arbeitsstellen in Lettland können derzeit nicht besetzt werden.
Mit diesen Inputs gelangte meine Eurotours-Reise 2023 auch schon an ihr Ende. Jetzt hoffe ich, dass ich das ursprünglich geplante Gespräch remote nachholen - und damit ein letztes Mosaiksteinchen für meine Geschichte erhalten kann. Das Ergebnis gibt es demnächst in DIE FURCHE.