Ultra-Lauf mit Alleinstellungsmerkmal

Heute nimmt sich Harald Reiff Zeit, um ein Stück des Weges mit mir entlang der Nordbahn zu gehen. Er ist der Hauptkoordinator des Berliner Mauerweglaufs. Jedes Jahr findet dieser Ultralauf am Wochenende am bzw. unmittelbar nach dem 13. August statt. Es ist der Tag, an dem 1961 mit dem Bau der Mauer begonnen wurde, die auf einer Strecke von insgesamt 160 km die westlichen Sektoren von Berlin (von Frankreich, Großbritannien und USA) zu einer Insel innerhalb der DDR machten. Der Anmeldestart für die Sportveranstaltung, an der mittlerweile neben Ultraläufern auch Staffeln mit bis zu 25 Mitgliedern sowie „Marschierer“ teilnehmen können, öffnet immer am 9. November – dem Tag des Mauerfalls.

Harald Reiff zählt von der ersten Stunde an zum Team des Mauerweglaufs

In den Jahren nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde zuerst rasch versucht, alle Spuren der Teilung zu beseitigen. Mit der Installation eines Rad- bzw. Gehweges entlang dem Verlauf der Mauer wurde die Grundlage für viele Erinnerungsorte, die es heute in Berlin gibt, geschaffen. Wenn man hier unterwegs ist spürt man auch, wie sehr sich entlang der Strecke über die Jahre – besonders für Radfahrer – ganz alltägliche Verkehrswege geformt haben. In den 2000er-Jahren hat sich eine Gruppe von Ultraläufern getroffen, die sich zum Ziel gesetzt hat, einen 100-Meilen-Lauf zu organisieren. Dieser konnte heuer bereits zum 12. Mal stattfinden. Nicht nur die Strecke selbst ist ein Alleinstellungsmerkmal – jedes Jahr wird dabei einem anderen der 139 offiziellen „Maueropfer“ gedacht. An den jeweiligen Erinnerungsstelen werden Gedenkminuten eingelegt, auch die Familien und Angehörigen des jeweiligen Maueropfers werden zum Event eingeladen. So treffen sich der Sport und das Opfergedenken im Rahmen dieser Veranstaltung. Heuer wurde dem an Weihnachten 1983 erschossenen Silvio Proksch gedacht – er stammte aus Pankow.

Die Mauer verlief hier entlang der Strecke der Nordbahn

Wir überqueren die Panke – sie ist der Fluss, von dem der Name dieses Stadtteils stammt. Es ist rundherum sehr grün, den Grenzstreifen kann man aufgrund der Vegetation und Bebauung teilweise noch ganz gut nachvollziehen. Die zum Teil sehr neuen Ein- und Mehrfamilienhäuser vermitteln den Eindruck einer freundlichen Wohngegend. Immer wieder gibt mir Harald spannende Einblicke: Der Bahnhof Wollankstraße lag zwar geografisch in der DDR, war aber dennoch der Bevölkerung West-Berlins vorbehalten. Gleich vor dem nordöstlichen Ausgang verlief die Grenze.

Das Gelände eines verwaisten Bahnhofs, unweit des Berliner Mauerweges

Schließlich kommen wir zur Bornholmer Straße – von hier gingen am 9. November 1989 die beeindruckenden Bilder mit den Menschenmassen, die den Grenzübergang überströmten, um die Welt. Das war damals der erste der sieben Berliner Grenzübergänge, der geöffnet wurde.

Die Bilder des Grenzübergangs Bornholmer Straße gingen um die Welt

Ich darf auch noch kurz mit Norbert Zeppitz sprechen. Der gebürtige Kärntner ist vor wenigen Jahren nach Berlin gezogen. Er ist einer der österreichischen Finisher des diesjährigen Mauerweglaufs. Für ihn sehr beeindruckend war der Umfang der Strecke – unter 160 km kann man sich meist nur die Fahrt in eine bestimmte Stadt, die genau so weit vom eigenen Wohnort weg liegt, vorstellen. Dass eine derartige Grenzanlage über so eine Strecke aufgezogen und erhalten wurde, ist nahezu unvorstellbar. Da seine Frau aus der ehemaligen DDR stammt, macht er sich mittlerweile mehr Gedanken zu dem Thema. Wie bei vielen anderen Aspekten des Lebens rückt der persönliche Bezug das Verständnis und die Betroffenheit noch einmal in ein anderes Licht. Ein sehr menschliches Phänomen – wenn der Krieg, oder eben die Mauer, nur weit genug von mir entfernt ist, findet man sich eben schnell damit ab.

In seiner Wahrnehmung ist es verblüffend, in wie vielen Köpfen die Berliner Mauer – auch nachdem sie schon länger nicht mehr steht als es sie jemals gab – bis heute präsent ist. Oft hätten auch jüngere Menschen das, was sie selber eigentlich gar nie richtig erlebt haben, quasi assimiliert, hängen bestimmten Vorurteilen und übernommenen Meinungen nach und fühlen sich einer Seite zugehörig. Einen weiteren Gedanken nehme ich aus unserem Gespräch mit: Weltweit gesehen gibt es heute viele Grenzen und Mauern, von denen in der Zeit des geteilten Deutschlands niemand ahnte. Und das, obwohl man annehmen könnte, dass man aus derartigen Entwicklungen gelernt hat und der Trend heute in die entgegengesetzte Richtung laufen müsste.

Eine Open-Air-Ausstellung beschäftigt sich mit der Bedeutung des 9. Novembers für Deutschland

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