Wann endet eigentlich „Wiedervereinigung“?

Ähnlich, wie man sich Gedanken über Mauern, Grenzen und Zäune machen kann, darf man in Berlin wohl auch die Frage stellen, wann man den Prozess der Wiedervereinigung als abgeschlossen betrachten kann. Bei meinen Gesprächen wird klar – die Mauer hat jeden, der vor 1989 schon hier gelebt hat, betroffen - sie tut es aber auch noch weit darüber hinaus bis heute. Die – mittlerweile vergangene bzw. noch bevorstehende – Wahl unterstreicht das zusätzlich, in mehreren Gesprächen wird die Sorge darüber geäußert, dass tendenziell rechte Parteien gut abschneiden werden. Die Tatsache, dass das in den „neuen Bundesländern“, also jenen, die früher der DDR angehörten, besonders ausgeprägt ist, wird im Zusammenhang immer wieder erwähnt.

Die Eastside Gallery ist ein beliebter Anziehungspunkt entlang des Mauerweges

In einem Gespräch fällt die Aussage, dass das mit der fehlenden Wertschätzung gegenüber der Bevölkerung im ehemaligen Osten zusammenhängen könne, der „Frust der Ossis“ zeige sich in ihrem Wahlverhalten. Man hatte in Westdeutschland vor 1989 wenig Interesse am Tagesgeschehen in der DDR, man fuhr nicht hin, wenn man nicht unbedingt musste. Mit der Wiedervereinigung wurde die ehemalige DDR quasi integriert, aber das war in erster Linie geprägt von einem Streben in Richtung Westen. Im Zuge dessen ging im Osten wohl auch viel Identität verloren – was zum Teil bis heute spürbar sein dürfte.

Gerade in Berlin sei das „Potenzial, das ein Mensch zur Veränderung hat“ nahezu aufgezehrt, das merkt man jetzt, nach 35 Jahren. Eigentlich dachte man mit dem 20-jährigen Jubiläum, dass man die Wiedervereinigung geschafft und die Teilung bewältigt hätte. Die Stimmung diesbezüglich war wohl schon optimistischer, und gerade in den vergangenen Monaten scheint manchen, das Ost-West-Gefühl habe sich wieder stärker aufgetan. Dabei ist die Erinnerung jener Menschen, die die Zeit der Teilung selbst erfahren haben, ist ein wichtiges Gut. Das wertzuschätzen und relevant ins heute zu transportieren, ist eine der großen Herausforderungen.

„Ich merke die Präsenz der Ost- und West-Teilung bei meinen Eltern“

Meine Gesprächspartner entstammen verschiedenen Generationen, insofern lässt sich schon ein Unterschied zwischen denen beobachten, die ihre eigenen Erfahrungen mit der Teilung gemacht haben, und jenen, die danach geboren und kaum davon betroffen waren. Nicht nur einmal höre ich, dass man auf Straßen, die früher aufgrund der Mauer nicht befahrbar waren, bis heute nicht fährt oder sich „im Osten schlichtweg nicht auskennt“. Das sei allerdings bei der Generation, die schon immer ohne die Teilung aufgewachsen ist, komplett normal und nicht mehr spürbar.

„Ich fühle mich als Europäerin“

Mit dem Fall der Mauer hat man anfangs versucht, sämtliche Spuren zu verwischen. Viele Häuser wurden renoviert und zeigen heute keinerlei Merkmale der Teilung mehr. Erst nach und nach konnten Orte des Gedenkens entstehen, das Bewusstsein für die Wichtigkeit des Erinnerns setzte erst mit der Zeit ein. Es gab wohl auch einmal die Idee, eine Art „grünes Band“ entlang der Strecke durch Berlin zu ziehen. Diese Idee hat man aber verworfen, weil dadurch auch wieder eine permanente, einzementierte Teilung entstanden wäre, wie es sie früher gab.

„Ich bin schon das grüne Band abgefahren, jetzt habe ich mir auch die Berliner Mauer vorgenommen“

Ich konnte mich im Zuge meiner Recherche-Reise an vielen verschiedenen Orten entlang dieses Weges umschauen und -hören. Für mich wirkt die Mischung – aus Grünflächen, Wohnvierteln, Orten des Gedenkens und ganz neu entstandenen Stadtbereichen – sehr gelungen. Als eindeutiges Merkmal dient die dezente Doppelreihe aus Pflastersteinen, die immer wieder entlang des Weges erscheint, wie auch die markanten Tafeln, die in regelmäßigen Abständen auf 3,60 m Höhe angebracht sind. Rundherum ist in den vergangenen 35 Jahren eine Stadt gewachsen, in der Menschen leben, die – allen Herausforderungen zum Trotz – auch zusammengewachsen sind. Wie viel Zeit sie dafür benötigen, ist dabei weit weniger wichtig als die Tatsache, dass es passiert.

Für Daheimgebliebene und jene, die sich gern näher mit der Mauer beschäftigen oder auf Berlin einstimmen wollen, habe ich ein paar Tipps gesammelt:

  • One, two, three: Film-Klassiker des emigrierten Österreichers Billy Wilder, bei den Dreharbeiten in Berlin wurde das Team 1961 tatsächlich vom Mauerbau überrascht

  • Ein Tag im August – Mauerbau ’61: Die Fernsehdokumentation aus dem Jahr 2021 zeigt aus verschiedenen Perspektiven, was von 12. auf 13. August 1961 geschehen ist

  • Die Berliner Mauer – Biografie eines Bauwerkes: Hans-Hermann Hertle fasst in dem kleinen Taschenbuch (2011) Details rund um die Berliner Mauer kompakt zusammen

Mit dem „Band des Bundes“ wurde versucht, im Regierungsviertel die beiden Ufer der Spree architektonisch zusammenwachsen zu lassen

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