8.8.: Die Verantwortung der EU
Die letzten Stunden vor meiner Abreise aus Albanien möchte ich noch gut nutzen. Am Vormittag mache ich mich auf den Weg, um den Politikwissenschafter Afrim Krasniqi in seinem Büro im Zentrum von Tirana zu treffen. Krasniqi ist als kritischer Geist bekannt, mit ihm will ich meine Erfahrungen der vergangenen Tage besprechen.
Sein Büro finde ich nicht sofort. Es befindet sich in einer Seitenstraße, daneben wird gebaut. Der Beschilderung zufolge soll hier in den nächsten Jahren ein riesiger Gebäudekomplex entstehen. Ganz vorstellen kann ich mir nicht, wie sich das hier ausgehen soll. Krasniqi zeigt mir später wie die Baustelle von oben aussieht. Noch kann er von seinem Balkon hinuntersehen. In den nächsten fünf Jahren werde sich das aber ändern. Er überlege, sein Büro dann umzusiedeln, denn hier werde es zu eng werden.
Die Baustelle ist ein Symptom der politischen Situation in Albanien. Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen gäbe es im Land de facto nicht, vielmehr gehe es darum, wer wo welches Monopol – wie etwa bei den Bauten hier in der Stadt Tirana – erhalte. Es sei ein großes Politikum, für das nicht nur die Regierenden in Tirana Verantwortung tragen, sondern auch die externen Kräfte, die auf Albanien wirken. Geld, das in den Aufbau der Infrastruktur fließen sollte, komme meist nicht dort an, wo es gebraucht wird, sondern helfe Mächtigen im Land noch Mächtiger zu werden. „Mit starken Führungspersönlichkeiten lässt es sich leichter arbeiten“, resümiert der Experte. Die Bedürfnisse der einfachen Menschen in Albanien kämen dabei aber oft zu kurz. Die einzelnen Länder der EU würden Unterstützung im Beitrittsvorhaben anbieten, aber für alles eine Gegenleistung erwarten. Der Rama-Meloni-Migrationsdeal sei ein Beispiel dafür, aber auch der massive Braindrain.
Die Perspektive, dass Albanien in den nächsten zehn Jahren EU-Mitglied werde sehe er derzeit aber auch aufgrund der sich ständig ändernden Voraussetzungen für die Aufnahme nicht. Außerdem fehle im Land ein kritischer Diskurs: „Wir haben in Albanien keine Meinung zur EU. Alle sind für die EU, keiner ist dagegen, aber das bedeutet es gibt keine politische Debatte“, erklärt mir der Experte.
Bei allen kritischen Betrachtungen will er aber auch das Positive betonen. Albanien habe in den vergangenen 30 Jahren große Fortschritte gemacht. Er selbst sei als Student dabei gewesen als Albanien seine ersten Schritte als Demokratie gesetzt hat, seine Kinder kennen nichts anderes mehr als Freiheit. Darum mag ihnen manches im Land auch zu langsam vorangehen. So oder so, steht für den Politikwissenschafter aber fest: „Wir sind ein Teil Europas – ich wüssten nicht, was uns von EU-Ländern wie Bulgarien oder Rumänien unterscheiden sollte.“
Für mich gilt es jetzt, meine eurotours-2024-Reise zu verarbeiten. Was dabei herauskommt, lasse ich euch natürlich wissen.